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« Wer ist hier der Chef? »
Hunde, die nicht auf Kommandos hören, ständig mit Artgenossen in Streit geraten, ihr Futter vehement verteidigen oder an der Leine ziehen, werden gerne als dominant bezeichnet. Doch was bedeutet Dominanz bei Hunden eigentlich? Haben nur Alphatiere dominante Wesenszüge und kann falsche Hundeerziehung die Entstehung von Dominanzproblemen begünstigen?
Was versteht man unter dominanten Verhalten?
In unserem Sprachgebrauch wird Dominanz häufig mit Aggression gleichgesetzt. Doch entspricht das wirklich der Wahrheit? Wissenschaftler erklären den Begriff folgendermaßen: „Dominante Individuen weisen gegenüber anderen Individuen einen hohen sozialen Status auf, worauf die letztgenannten Individuen mit Unterwürfigkeit reagieren“. Von Aggression ist hier nirgendwo Rede. Jedoch zeigt die Erklärung, dass ein Beziehungsgeflecht vorliegen muss, welches die Ausübung entsprechender Verhaltensweisen bei Vierbeinern erst ermöglicht. Es besteht eine konstante Wechselwirkung zwischen Dominanz und Unterwürfigkeit.
Dominanztheorie bei Hunden und der Mythos um das Alphatier
Die Ursprünge der Dominanztheorie reichen bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück. Entwickelt wurde sie vom Zoologen Thorleif Schjelderup-Ebbe, der eigentlich das Sozialverhalten von Hühnern (Hackordnung) erklären und vorhersagen wollte. Jahre später wurden seine Erkenntnisse auf weitere Tierarten – zum Beispiel auf Primaten und Wölfe – übertragen. Die Quintessenz der klassischen Dominanztheorie lautet: In jeder sozial strukturierten Gruppe, so auch in einem Hunderudel, gibt es ein Alphatier, das in allen Lebenslagen als Anführer agiert und die Unterwürfigkeit anderer Gruppenmitglieder durch dominantes Verhalten einfordert.
Aktuelle Forschungsergebnisse widerlegen diese These jedoch. Sie machen deutlich, dass es in einem Wolfs- oder Hunderudel keine starren Hierarchien und somit auch kein Alphatier mit absoluter Macht gibt. Zwar zeigen einzelne Mitglieder eines Rudels bisweilen dominantes Verhalten, doch dieses tritt situationsbedingt auf und steht in keinem Zusammenhang mit der hierarchischen Stellung im Rudel.
Die Mär von der Hundedominanz ist weiterhin allgegenwärtig
Ungeachtet dieser neuen Erkenntnisse ist die Theorie vom Alphahund, der auch seine Menschenfamilie dominieren möchte, noch tief in den Köpfen der Menschen verankert. Verhält sich ein Vierbeiner ungehorsam gegenüber Frauchen oder Herrchen, wird dies häufig damit erklärt, dass das Haustier versucht, die Rolle des Rudelführers einzunehmen. Dominanz bei Hunden ist und bleibt ein kontroverses Thema, das oft falsch interpretiert oder sogar völlig missverstanden wird. Leider kursieren zahlreiche kontraproduktive Erziehungstipps, die bestehendes Fehlverhalten eines Hundes nicht korrigieren, sondern sogar noch verschlimmern können.
Anti-Dominanz-Training – warum Sie getrost darauf verzichten können
Jahrzehntelang waren Hundetrainer davon überzeugt, dass Hundeerziehung nur zum Erfolg führen kann, wenn ein Tier seine Bezugsperson als Rudelchef akzeptiert. Brutal anmutende Trainingskonzepte wie der Schnauzengriff oder der Alphawurf wurden entwickelt, um Hunde „zu unterwerfen“. Darüber hinaus wurde Hundebesitzern geraten, als Machtdemonstration stets vor ihren Vierbeinern durch eine Tür zu gehen. Außerdem sollten sie ihren Hunden verbieten, erhöhte Schlafpositionen (etwa auf einem Sofa) einzunehmen, da diese – laut klassischer Dominanztheorie – nur einem Rudelführer zustehen. Vermeintliches Dominanzverhalten wie das Zerren an der Leine konnte durch die oben genannten Trainingsansätze jedoch nur selten korrigiert werden. Die Gründe hierfür liegen klar auf der Hand.
Ein Problem, das gar nicht existiert
Häufig besteht die veraltete Annahme, dass unsere vierbeinigen Freunde von Natur aus bestrebt sind, die Chefposition innerhalb eines Rudels oder einer Mensch-Tier-Beziehung einzunehmen. Neue wissenschaftliche Studien belegen jedoch, dass diese Annahme völlig aus der Luft gegriffen ist. Stürmt Ihr Vierbeiner – voller Vorfreude auf den bevorstehenden Spaziergang – an Ihnen vorbei durch die Haustür oder gönnt er sich ab und an ein Nickerchen auf der Couch, ist das noch lange kein Indiz dafür, dass er die Position des Rudelführers beansprucht.
Dominanz oder Ungehorsam? Verhaltensprobleme richtig deuten
Dominante Wesenszüge lassen sich nicht daran erkennen, dass ein Tier an der Leine zerrt, Artgenossen anpöbelt oder sein Futter bzw. seine Kauartikel verteidigt. Zeigt ein Hund diese Verhaltensweisen, ist er nicht zwangsweise dominant, aber jedenfalls schlecht erzogen. Anhand von zwei Beispielen möchten wir veranschaulichen, wie Sie Verhaltensauffälligkeiten eines Hundes richtig deuten und in weiterer Folge korrigieren können.
Keine Lust auf „Sitz“ und „Bleib“ – Kommandos werden ignoriert
Hört Ihre Fellnase nicht zuverlässig auf Grundkommandos wie „Platz“, Bleib“ oder „Hier“, zeigt er damit nicht unbedingt Dominanzverhalten. Viel eher ist davon auszugehen, dass er gar nicht versteht, was Sie eigentlich von ihm wollen. Achten Sie bitte darauf, alle Kommandos möglichst klar und deutlich auszusprechen. Gerne können Sie verbale Aufforderungen mit passenden Handzeichen kombinieren, denn Vierbeiner achten sehr genau auf unsere Körpersprache. Verhält sich Ihr Liebling wunschgemäß, sollte er unverzüglich gelobt und mit einem Leckerli verwöhnt werden. Dadurch lernt der Hund, dass es sich lohnt, die Ohren zu spitzen und Kommandos zu befolgen.
Unangenehmes Ziehen und Zerren an der Leine
Vierbeiner ziehen nicht an der Leine, weil sie dominant sind, sondern einfach nur, weil Hundehalter diese Unart zulassen. Hat Ihr Liebling einmal die Erfahrung gemacht, dass ihn das Zerren an der Leine zu seinem gewünschten Ziel bringt, wird er immer wieder versuchen, selbst die Marschrichtung und die Laufgeschwindigkeit zu bestimmen. Bleiben Sie deshalb stehen, sobald Ihr Haustier zu ziehen beginnt. Der Spaziergang wird erst fortgesetzt, wenn die Leine wieder locker durchhängt. Denken Sie immer daran: Leinenführigkeit ist keine Frage von Dominanz oder Unterwürfigkeit. Mit konsequenter Erziehung kann jede Fellnase lernen, entspannt und folgsam an der lockeren Leine zu laufen.
Die richtige Hundeerziehung mit Konsequenz
Hunde, die vermeintliches Dominanzverhalten an den Tag legen, wurden in den meisten Fällen einfach falsch oder unzureichend erzogen. Sie versuchen bestimmt nicht, die Rudelführerschaft zu übernehmen, da es in einem Wolfs- oder Hunderudel gar kein Alphatier mit absoluter Machtposition gibt. Verabschieden Sie sich bitte auch von dem Gedanken, dass Sie Ihr Haustier dominieren müssen, damit es Sie respektiert. Regelmäßiges Gehorsamkeitstraining mit Lob und positiver Bestärkung ist vollkommen ausreichend, um ein harmonisches Zusammenleben von Mensch und Tier sicherzustellen. Sie müssen kein strenger Rudelchef sein. Schenken Sie Ihrem Vierbeiner viel Liebe und Aufmerksamkeit, aber zeigen Sie auch Konsequenz bei der Durchsetzung von Verhaltensregeln. Dann wird sich Ihr tierischer Freund gerne an Ihnen orientieren.